Wann ist ein selbständiges Beweisverfahren erforderlich und welche Alternativen gibt es?

Das sogenannte selbständige Beweisverfahren gibt allen am Bau beteiligten Personen ein sinnvolles Mittel an die Hand, um schnell und effektiv Baumängel, deren Ursachen und Sanierungsmöglichkeiten einschließlich der möglichen Kosten sachverständig und gerichtsbeständig feststellen zu lassen. Auch über die im Einzelfall streitige Frage, ob eine Bauleistung vertragsgerecht ist oder nicht, kann auf diesem Wege eine gutachterliche Klärung zwischen den Beteiligten herbeigeführt werden. Daneben kann es aber auch erforderlich sein, die Richtigkeit der Massen, den Bauten oder Ausführungsstand eines Gewerkes, z.B. bei einem gekündigten Werkvertrag, einschließlich der Mangelfreiheit im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens feststellen zu lassen.

1. Gegenstand und Voraussetzungen eines selbständigen Beweisverfahrens

Das selbständige Beweisverfahren ist geregelt in §§ 485 ff. ZPO. Es ist, soweit noch kein Rechtsstreit anhängig ist, grundsätzlich bei dem Gericht zu beantragen, daß zwischen den Beteiligten in einer möglichen Hauptsache für die Entscheidung zuständig wäre (§ 486 Abs. 2 ZPO). In den heutigen Bauverträgen sind, soweit es sich bei den Beteiligten um Vollkaufleute (z.B. GmbH) handelt, überwiegend Gerichtsstandsvereinbarungen enthalten, so daß diese Gerichte auch für das selbständige Beweisverfahren zuständig wären. In allen anderen Fällen steht in Bausachen in der Regel der besondere Gerichtsstand des Erfüllungsortes (§ 29 ZPO) zur Verfügung. Damit ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung der Ort des Bauvorhabens in diesen Sachen auch für die Beantragung eines selbständigen Beweisverfahrens maßgebend.

Der Gegenstand der Begutachtung durch einen Sachverständigen kann bei noch nicht anhängigem Rechtsstreit und bestehendem rechtlichen Interesse sein:

Es kann mithin insbesondere beantragt werden, Baumängel, deren Ursachen, die erforderlichen Sanierungsmaßnahmen und Mängelbeseitigungskosten, die Verantwortlichkeit für Mängel, die Richtigkeit von Massen sowie den Bautenstand feststellen zu lassen. Das erforderliche rechtliche Interesse an der Begutachtung ist gemäß § 485 Abs. 2 S. 2 ZPO gegeben, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann. Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn über die zu begutachtende Tatsache und über die zu treffenden Feststellungen (z.B. Baumängel, deren Umfang, Ursachen und Verantwortlichkeiten, Mängelbeseitigungsmaßnahmen etc.) zwischen den Parteien keine Einigkeit besteht und Ansprüche des Antragstellers hieraus resultieren oder ihm gegenüber hieraus drohen können (z.B. Gewährleistungs- oder Schadensersatzansprüche). Kommen Gewährleistungs- oder überhaupt Ansprüche des Antragstellers in Betracht oder sind diese von ihm abzuwehren, besteht selbst dann ein rechtliches Interesse an der Feststellung, wenn keinerlei Vergleichsbereitschaft des Antragsgegners besteht.

 Darüber hinaus ist ein selbständiges Beweisverfahren zulässig, wenn die "Besorgnis des Verlustes oder der erschwerten Benutzung des Beweismittels besteht" (§ 485 Abs. 1, 2. Alt. ZPO). Dies trifft insbesondere für Baumängel zu, die bei Fortschreiten des Baues nicht mehr oder nur unter erschwerten Bedingungen aufgrund der Ausführung von Nachfolgearbeiten noch begutachtet werden können. Aber auch bei gekündigten Bauwerkverträgen ist es u.U. für den Werkunternehmer (z.B. den montierenden Fensterbauer) erforderlich, den Ausführungsstand seines Gewerkes und dessen Mangelfreiheit feststellen bzw. gerichtsbeständig bestätigen zu lassen, bevor der neu beauftragte Folgeunternehmer die Arbeiten zu Ende führt und damit nicht mehr zu unterscheiden ist, welche Arbeiten von welchem Unternehmer wie ausgeführt wurden.

Festgestellt werden können durch Sachverständigengutachten im Falle von Baumängeln:

Entsprechendes gilt für Schäden an dem Bauwerk oder einem noch nicht abgenommenen Gewerk eines Unternehmers, die u.U. durch andere Gewerke am Bau verursacht werden.

Beispiel: Die eingebauten Fenster werden durch Schweißperlen oder vom Sandstrahlen der Fassade beschädigt. Der Auftraggeber des Fenstergewerkes/ Fensterbau stellt sich, ohne daß eine Abnahme erfolgte, auf den Standpunkt, der Fensterbauer habe sein Gewerk zu schützen und die Scheiben auf seine Kosten auszutauschen. In einem solchen Fall obliegt dem Fensterbauer der Nachweis, daß die Beschädigungen durch einen unabwendbaren vom Auftraggeber nicht zu vertretenden Umstand verursacht wurden (§ 7 Nr. 1 VOB/B). Selbst, wenn die Voraussetzungen des § 7 Nr. 1 VOB/B nicht erfüllt sein sollten, muß der Fensterbauer die Verursachung der Schäden feststellen lassen, um den Verursacher auf Schadensersatz in Anspruch nehmen zu können.

2. Wann sollte ein selbständiges Beweisverfahren durchgeführt werden?

Für die Frage, wann und ob ein selbständiges Beweisverfahren erforderlich ist, muß vorab die juristische Frage nach der Beweislast beantwortet werden. Ein selbständiges Beweisverfahren soll Beweis für Tatsachen erbringen, die später für den Antragsteller als Grundlage für seine Ansprüche benötigt werden oder mit denen (unberechtigte) Ansprüche anderer abgewehrt werden sollen. Will mithin ein Bauherr Gewährleistungsansprüche gegenüber den von ihm beauftragten Werkunternehmer geltend machen, muß er nachweisen, daß dessen Gewerk mängelbehaftet ist. Berühmt sich umgekehrt der Bauherr in Wahrheit nicht bestehender Gewährleistungsrechte, hat der Werkunternehmer die Möglichkeit, deren Nichtbestehen gerichtlich feststellen zu lassen, wofür er die Mangelfreiheit seines Gewerkes nachweisen müßte.

Die Beantwortung der Frage nach der Beweislast ist mithin von zentraler Bedeutung für die Entscheidung über die Beantragung eines selbständigen Beweisverfahrens. Sie sollte nur mit anwaltlicher Hilfe erfolgen, da es sich hierbei um eine juristische Beurteilung handelt, die von vielen Umständen des Einzelfalles abhängig ist und durchaus Schwierigkeiten bereiten kann. Wem im Einzelfall für welche Tatsachen die Beweislast obliegt, hängt von der Rechtsnatur des Anspruches ab, der geltend gemacht werden soll. Bei Gewährleistungsansprüchen, also nach erfolgter Abnahme, ist relativ klar, daß der Auftraggeber den Mangel zu beweisen hat. Nicht selten kann sich aber in der Praxis vorher schon die Frage stellen, ob das Gewerk überhaupt abgenommen ist. Greift die fiktive Abnahme (§ 12 Nr. 5 VOB/B), wurde die Abnahme verweigert und wenn ja zu Recht? Diese Fragen klingen einfach, sind aber einer der häufigsten Streitpunkte in Bausachen.

Für die Entscheidung, ob ein selbständiges Beweisverfahren beantragt werden sollte, sind weitere Gesichtspunkte relevant, die vor der Beantragung geklärt werden sollten. Hierzu zählt die Frage, wie groß die Gefahr des Beweisverlustes oder wie hoch die Chance einer gütlichen Einigung ohne einen aufwendigen Rechtsstreit ist, wenn die streitige Frage vorab durch einen Sachverständigen geklärt wird.

Auch die Alternativen zum selbständigen Beweisverfahren sind zu berücksichtigen. Hierzu zählt in erster Linie das Schiedsgutachten. Alle Fragen und Feststellungen, die in einem selbständigen Beweisverfahren geklärt werden können, lassen sich auch mit einem Schiedsgutachten sachverständig beantworten bzw. treffen. Dabei sind die Vor- und Nachteile sorgfältig gegeneinander abzuwegen. Auch hier sollte anwaltlicher Rat eingeholt werden. Mit dem Schiedsgutachten wird ein Sachverständiger, auf den sich beide Parteien einigen, beauftragt, die zu klärenden Fragen zu begutachten und zu beantworten. Dieses Verfahren hat gegenüber dem selbständigen Beweisverfahren den Vorteil einer großen Schnelligkeit und Flexibilität. Die Parteien brauchen die Begutachtung nicht erst bei Gericht zu beantragen und durch einen Beweisbeschluß bescheiden zu lassen. Darüber hinaus können sich ergebende Ergänzungsfragen dem Sachverständigen direkt in Abstimmung mit dem Gegner vorgelegt werden und bedürfen ebenfalls nicht der Beantragung und Bescheidung durch das Gericht. Schließlich ist das Urteil des Sachverständigen, es sei denn, es ist offensichtlich unrichtig, für beide Parteien bindend. Dies aber ist jedoch nur dann von Vorteil, wenn sich beide Parteien auf die Kompetenz des Sachverständigen verlassen können. Es ist daher bei der Vereinbarung eines Schiedsgutachtens von großer Wichtigkeit, sich von kompetenter Stelle den richtigen Sachverständigen für die zu klärenden Fragen benennen zu lassen.

Das selbständige Beweisverfahren hat gegenüber dem Schiedsgutachten den Vorteil, daß es auch gegenüber Dritten wirkt, wenn während oder zu Beginn des Beweisverfahrens diesen der Streit verkündet wird. Steht also noch nicht fest, wer für einen bestimmten Schaden oder Mangel verantwortlich ist, kann gegen den mutmaßlichen Verursacher (Antragsgegner) die Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens beantragt werden und demjenigen, der möglicherweise auch als Verursacher in Frage kommt, der Streit verkündet werden (Streitverkündeter). Wird nun in dem selbständigen Beweisverfahren festgestellt, daß der Antragsgegner entgegen erster Annahmen den Schaden oder Mangel nicht verursacht hat, sondern dies der Streitverkündete X war, kann dieser die Schadens- oder Mängelverursachung in einem folgenden Prozeß nicht mehr leugnen. Bei einem Schiedsgutachten ist eine Beteiligung Dritter immer von deren freiwilliger Unterwerfung unter das Gutachten abhängig. Die entsprechende Zustimmung wird im Einzelfall schwierig zu erlangen sein. Die Streitverkündung im selbständigen Beweisverfahren hingegen ist auch gegen den Willen der Streitverkündeten möglich.

Unter Hinzuziehung eines Sachverständigen und mit anwaltlicher Hilfe kann im Einzelfall auch ohne Beweisverfahren und Schiedsgutachten eine für beide Seiten faire und dennoch kostensparende Lösung gefunden werden, soweit die streitigen Tatsachen keiner eingehenden gutachterlichen Untersuchung bedürfen und beide Parteien kompromißbereit sind.

Bleibt lediglich anzumerken, daß bei der Beantragung bzw. der Durchführung des selbständigen Beweisverfahrens zwar keine Vertretungspflicht besteht - einfach ausgedrückt: Man muß keinen bei dem für die Sache zuständigen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt in Anspruch nehmen. In den meisten Fällen wird die Inanspruchnahme eines auf dem Gebiet des zivilen Baurechts "vertrauten" Rechtsanwalts zu empfehlen sein.